Farid Shawqi, Hind Rostom, Youssef Chahine, Hassan el Baroudi, Abdulaziz Khalil
![]() | ![]() | ![]() |
Der Hauptbahnhof der Hauptstadt Kairo in Ägypten: In jeder Minute kommt ein Zug an, und in jeder Minute verlässt einer den rund um die Uhr von Menschen wimmelnden Betrieb, weiß der Inhaber des Zeitungskiosks Madbouli (Hassan el Baroudi). Er erinnert sich daran, wie er eines Tages nach dem Mittagsgebet einen jungen Mann (Youssef Chahine) aus der Provinz auf dem Boden kauernd fand. Als er bemerkte, dass jener ein lahmes Bein hatte, entschied er sich aus Mitleid, ihm als Zeitungsjungen auf den Gleisanlagen einzustellen. Doch als er eines Tages jenen Unterschlupf in Nähe der Lagerschuppen, den er ihm als Nachtlager zur Verfügung gestellt hatte, besuchte, um nach dem Gang der Dinge zu sehen, war er fassungslos. Überall hatte Qinawi, so der Name des Mannes, aus Zeitungen ausgeschnittene Pin-Up-Girls aufgehängt. Madbouli erkannte, dass der lahme Qinawi von der Spezies Frau vollkommen besessen war… Eines Morgens rennt die Limonadenverkäuferin Hanumah (Hind Rostom) vor dem Police Sergeant Hasanain (Abdel Hamid Bodaoha) davon. Sie verkauft ihre Waren zwar im Auftrag des umtriebigen und gierigen Mansoor (Ahmed Abaza), aber das Geschäft ist illegal. Als sie ihre Kolleginnen, die sich in der Sonne ausruhen und plaudern, darüber informiert, klagen diese über ihre Entlohnung und die Hitze des Tages. Sie necken Hanumah damit, dass sie zwar mit Abu-Sri Abdulhayy (Farid Shawqi) verlobt sei, aber Qinawi ein Auge auf sie geworfen habe. Doch Hanumah winkt geringschätzig ab…
“Blending Italian neorealism with film noir elements, the movie offers a vivid slice-of-life portrayal of 1950s Egyptian society, (…) pushing the boundaries of Egyptian cinema before its nationalization”, schreibt Gary Tooze für DVD Beaver und trifft den Nagel auf den Kopf. Für einen West-Europäer wie mich, der mit der Kinohistorie der arabischen Welt nur insofern vertraut ist, als sie auf DVD oder BD mit Untertiteln überhaupt zugänglich ist, bot der Genuss dieses Meisterstücks reihenweise Überraschungen. Die Art und Weise, wie sein Autor und Regisseur Youssef Chahine mit Themen wie sozialer Ungleichheit und Korruption, der Emanzipation der Frau und dem Kampf der Arbeiter für ein Gewerkschaftsrecht hausieren geht, ist für einen Film im Ägypten des Jahres 1958 schlicht provokant. Genaugenommen wäre das in jedem west-europäischen Land und auch in den USA ebenso aufgefasst worden, und somit erscheint uns Zuschauern die arabische Nation mit ihrer langen Geschichte in der Mitte des 20. Jahrhunderts geradewegs als modern. Vor allem erinnert Chahine, wie auch Gary Tooze feststellt, sowohl mit Blick auf seine Filmerzählung, aber auch im Rekurs auf seine exquisite Bildsprache an den italienischen Neorealismus: Giuseppe De Santis‘ Bitterer Reis (ITA 1949) liegt von dem in Kairo angesiedelten Drama tatsächlich nicht weit entfernt. Zugleich entpuppt sich das Werk in seinem zweiten Teil als waschechter Film Noir, dessen Dynamik und Dramatik endgültig zur Spannung findet und die Ambivalenz des Filmstils zur Geltung kommen lässt. Letztere rückt Qinawi, von Youssef Chahine höchstpersönlich verkörpert, in die Nähe von Hans Beckert (Peter Lorre) in Fritz Langs M- Eine Stadt sucht einen Mörder (GER 1931) oder von Martin Lynn (Farley Granger) in Mark Robsons Auf des Schicksals Schneide (USA 1950). Denn auch Youssef Chahines Film steuert auf ein Finale zu, dessen Dramatik ungeachtet seines Ausgangs von vornherein für einige der Beteiligten einen tragischen Ausgang nehmen muss.
Nicht alle Schauspielerinnen sind welche; manche von ihnen waren Laiendarstellerinnen, und das merkt man. Aber es tut dem Genuss dieses komplett vor Ort im Hauptbahnhof von Kairo gefilmten Drama, das mit seinen Lokomotiven und den Schauplätzen auch an Jean Renoirs Bestie Mensch (FRA 1938) erinnert, keinen Abbruch. Das Werk war übrigens zur Zeit seiner Erstaufführung in seiner Heimat kein Erfolg an der Kinokasse. Für den Zeitgeschmack eines arabischen Publikums war es zu freizügig im Bild und zu aufmüpfig im Ton. Auf den Internationalen Filmfestspielen Berlin 1958 nahm Tatort… Hauptbahnhof Cairo am Wettbewerb um den Goldenen Bären teil, der in dem Jahr an Ingmar Bergmanns Wilde Erdbeeren (SWE 1957) verliehen wurde. Obwohl der Film auch im bundesdeutschen Kino lief, geriet er hierzulande später in Vergessenheit. Zuerst in den 70er Jahren und im 21. Jahrhundert durch Veröffentlichung auf DVD und Bluray-disc erkannte man in ihm ein Hauptwerk seines Regisseurs Youssef Chahine, der über einen Zeitraum von 57 Jahren insgesamt 46 Filme drehte und 2008 im Alter von 82 Jahren verstarb. Tatort… Hauptbahnhof Cairo sei jedem Connaisseur der Filmklassik hiermit vorbehaltlos ans Herz gelegt.
Unter dem US-Titel Cairo Station erschien Youssef Chahines Bāb al-ḥadīd in einer fantastisch restaurierten Fassung als Blu-ray disc oder auch DVD (2025) in 4K und zwar in der US-amerikanischen Criterion Collection. Bild- und tontechnisch erstklassig und ungekürzt im Originalformat ist das Werk mit dem arabischen Originalton und optional englischen Untertiteln beinhaltet. Als Extras gibt es die Dokumentation Cairo as seen by Chahine (EGY 1991) von Youssef Chahine selbst, dazu eine Einführung des Filmwissenschaftlers Joseph Fahim, der zudem ein Interview und einen Essay beisteuert. Dazu gibt es noch Mona Gandours Dokumentation Chahine… Why? (EGY 2009). Eine zuvor ebenfalls in den USA via Typecast Pictures als 50th Anniversary Edition auf DVD (2008) erschienene Fassung des Werks erweist sich bild- und tontechnisch ebenfalls hochwertig und beinhaltet gleichsam englische Untertitel.










