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Gespeichert von Tonio Klein (nicht überprüft) am 18. April 2017 - 3:29

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Zeigt der Film die Stadt nackt oder schenkt er ihr ein Kleid?

Morgengrauen am Hafen. Zwei einsame Killer, mindestens einer kein Profi. Er hat sich ob der gemeinsam begangenen Untat betrunken und lallt Dinge, die die Polizei besser nicht höre. Also gibt’s einen mit dem Kantholz auf den Kopp, rein zufällig von einem Gegenstand verdeckt, und dann ab in den Fluss. Schon diese Szene zeigt, was „The Naked City“ nicht ist: ein dokumentarisch gefilmter Streifen. Sondern reinster film noir. Immer wieder haben wir dies: sehr ausgefeilte und alles andere als zufällige Kadrierungen, wichtige und übergroß-verzerrte Gegenstände im Bild, Schatten, tiefenscharfe Mehrebenenbilder und was weiß ich nicht noch alles. Zu Beginn überrascht dies, hatte doch Produzent Mark Hellinger aus dem Off angekündigt, dass jetzt mal ein ganz anderer Film komme, einer, der an Originalschauplätzen gedreht sei und die Stadt New York mitsamt ihren Bewohnern zeige, wie sie sei.

Das ist natürlich ein Stück weit übertrieben, und wie gesagt, Kamera, Beleuchtung, Schnitt, die ganze mise-en-scène zeigen sogleich eine künstlerische Gestaltung, die den angeblich semidokumentarischen Ansatz konterkariert. Ist das nun so schlimm? Nein, aus mehreren Gründen. Zum einen ist das ja immer noch ein guter film noir. Zum anderen: Wer behauptet, dass dokumentarische Objektivität mit einem nüchternen Stil einhergehen müsse und umgekehrt, der versteht von Film wie überhaupt von Kunst recht wenig (oder hat mit drei anderen Dänen besoffen in der Kneipe das „Dogma '95“ geschrieben). Zum dritten: Ganz so wie jeder andere Krimi auch ist dieser Film dann doch nicht, und viertens ist er zum Glück nicht so propagandistisch wie manches Eagle-Lion-Machwerk mit FBI- und Mc-Carthyismus-Glorifizierung unter dem Deckmantel des „Semidokumentarischen“.

Auffällig sind, nicht nur am Beginn, Aufnahmen aus der Vogelperspektive, mit denen die Kamera, die ansonsten aber auch wieder in das Leben „eintaucht“, die beobachtende und die empathische Perspektive miteinander verbindet. Seht her, acht Millionen Menschen leben hier, und seht auch her, was nur eine von acht Millionen Geschichten in sich haben kann. Bei dieser einen Geschichte geht es um einen Mord, s.o. Ein bildschönes Mädchen vom Lande hat den Tod gefunden, aber selbst noch das Klischee, dass es sich in der Stadt die Finger verbrannt hat, wird bei der nuancierten Darstellung der trauernden Eltern gebrochen. Eine gebrochene Existenz ist auch der Hauptverdächtige (Howard Duff – bitte gebt mir Robert Ryan!), einer dieser typischen verunsicherten Männer des film noir, denen entweder der Krieg den Job und die Selbstsicherheit genommen hat oder der (so hier) nicht mal für den Krieg gut genug war, als alles andere ebenfalls schiefging. Der Film verzichtet allerdings darauf, diesen Mann zum Zentrum seiner Geschichte zu machen – schließlich soll es um das Besondere im Alltäglichen gehen. So verknüpft Regisseur Jules Dassin das Ganze mit der Darstellung von Routine-Ermittlungsarbeit und stellt einen älteren, erfahrenen Lieutenant (Barry Fitzgerald) in den Vordergrund. Und dieser trägt einiges dazu bei, dass die routinierten Ermittlungen nicht zum allzu routinierten Film werden! Mit einer Mischung aus Scharfsinn und verschmitztem Humor, der aber nie altväterlich-gütig ist, belebt dieser Charakter, der ständig unterschätzt werden könnte, Film wie Ermittlungen ungemein! Ein bisschen abgefahrenes Beiwerk gibt’s noch hinzu. So ist eine Episode für den Film scheinbar völlig überflüssig: Ein Ermittler kommt nach Hause, idyllische Vorgartenszene mit Heimchen am Herd, aber dieses Heimchen ist absurd sexy und trägt bauchfrei; die beiden knutschen auch gleich einmal jenseits des keuschen „Bussis“ und führen die seltsame Diskussion, wer das Söhnleinchen vermöbeln möge, das andauernd ausreiße und sich dadurch in Gefahr begebe. Hier geht der Film mit Klischees satirisch-überhöhend um (die Frau ist eigentlich eine reine Männerfantasie, Sexbombe und gleichzeitig Anti-femme-fatale, nämlich „dienende Hausfrau“). Natürlich wird der Cop vom Liebesnest wegbeordert. Natürlich sollen wir nicht glauben, dass jedes Mannes Alltag so aussieht. Aber bei acht Millionen Menschen gibt es eben auch solche Alltage… (oder nicht? Ist auch egal!).

Im Übrigen sehen wir bei solchen Einsprengseln mehr halbwegs realen Alltag, East Side River, Ladenbesitzer in nicht so feinen Gegenden, eben „der Mann (oder die Frau) von der Straße“, Männer beim Wrestling, die immergleichen Fragen der Polizisten an alle möglichen Menschen, bis ein Puzzleteil der Nadel im Heuhaufen gefunden ist. Die Kamera an Originalschauplätzen scheut nicht einmal, sich in die Höhen eines Baugerüstes zu schwingen, wo die Ermittler mit einem Hochbauarbeiter, der zudem einen unnachahmlichen Akzent hat, sprechen. Hier dann wieder die Verbindung zur klassischen Kunst: Die Episode führt direkt zur Spur des Täters, der in einem Orson-Welles-James-Cagney-mäßigen Finale (man sehe „The Stranger“ und „White Heat“) ebenfalls ein Baugerüst erklimmt, diesmal aber klassisch expressiv statt naturalistisch gefilmt.

Was ist das unter’m Strich? Ein sehr solider film noir, der teils neue Wege beschreitet, das Schicksalsdrama mit der Ermittlungsschilderung verbindet, eine klassische Liebesgeschichte übrigens nur am Rande hat und uns immer mal wieder mit schrägen Details erfreut. Aber wenn ich zwischen einem etwas anspruchsloseren Werk zu wählen hätte, das seine Versprechen vollständig einlöst, und einem, das etwas zu viel verspricht, würde ich immer Ersteres nehmen. „The Naked City“ ist gut bis sehr gut, aber nimmt den Mund ein wenig voll, grad in den einleitenden Worten, nach denen „jetzt mal was ganz anderes“ komme. Auch ansonsten ist die Erzählstimme, ganz gegen ihre Tradition im film noir, zu penetrant, weil sie nicht aufdeckt, sondern gelegentlich schlicht sagt, was wir sowieso sehen, einmal sogar einen gut lesbaren Polizei-Aushang Wort für Wort vorlesend. Mein Gott, blöd sind wir Zuschauer auch nicht! Und so ist dies bei allen Stärken immer auch ein Film, der mir bei der Frage, ob sein Stil die Stadt maskieren oder demaskieren will, nicht ganz stringent scheint.

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